Ein Arm schaut aus einem Blumenfeld heraus

Zweierlei Maß

Es ist erstaunlich, wie anders ein „Ich musste nur mal kurz“ aus dem Mund eines Autofahrers klingt, der auf dem Fahrradweg steht, als wenn es von einem Fahrradfahrer käme, der auf einer Autobahn parkt. Komisch, wie oft wir mit zweierlei Augen schauen und mit zweierlei Maß messen.

Ebenso bemerkenswert ist es, wie lange es uns vorkommt, bis unsere Kinder tun, was wir ihnen sagen, dass sie tun sollen und wie kurz die Spanne ist, wenn die Kinder auf uns warten, weil wir zum Beispiel „nur noch schnell zu Ende telefonieren“ wollen. 

Und es ist erst erstaunlich, wie schnell uns die Schuld unseres Gegenübers auffällt und wie gut wir unsere ignorieren können. Es ist halt einfacher, andere anzuschauen als in den Spiegel. Aufgefallen ist mir das einmal extrem in einem Gespräch über Vergebung. 

Fangfrage

Eine Frau mittleren Alters fragte mich: „Glaubst du, dass Gott einem Mann wie Hitler oder Stalin vergeben würde, wenn sie ihn darum gebeten hätten?“ Am Tonfall bemerkte ich schon, dass dies eine Fangfrage war. Ich überlegte einen Moment, wie ich adäquat antworten könnte.  

Ich fragte eine Frage zurück: „Ist Gottes Liebe denn überhaupt groß genug, einem Menschen zu vergeben?“ Die Dame nickte. „Wie groß ist denn die Liebe Gottes?“, fragte ich weiter. Die Dame strahlte: „Unendlich groß!“, antwortete sie. 

„Nun, wenn die Liebe Gottes unendlich groß ist, wo hört dann seine Bereitschaft zur Vergebung auf? Bei einer Lüge? Bei fünf Lügen? Bei einem Diebstahl oder zehn? Bei einer getöteten Person oder bei mehreren Millionen?“ Jetzt schwieg die Dame. Sie war augenscheinlich irritiert und rang innerlich nach Worten. Wo schauen wir hin?

Andere anschauen

Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir lieber andere anschauen, andere beurteilen und andere verurteilen, als uns selber einzugestehen, dass auch wir nicht vollkommen sind. Uns fallen sehr schnell die negativen Charakterzüge von Kollegen, Busfahrern, Politikern und anderen ganz normalen Menschen auf. 

Es fällt uns nicht schwer, Menschen einen Stempel aufzudrücken und die in Schubladen zu sortieren. Und es ist nicht schwer, Gedanken zu haben, wie: „Wartet nur ab. Eines Tages werdet ihr Rechenschaft ablegen müssen, wenn ihr vor Gott steht“, – wenn uns wieder jemand versucht, mit einer SPAM-Mail zu betrügen. 

Das Problem an der Geschichte ist, dass wir uns selber mit dieser Einstellung einer Menge Segen berauben. Das Problem ist, dass es sein kann, dass gerade der „böse Mensch“ gegenüber erlebt, wie Gott ihm vergibt, sein Leben in Ordnung bringt, an seinem Charakter arbeitet und Böses mit seiner Liebe aus seinem Herzen wäscht, wie er Trost empfängt und Ermutigung, wie Gott ihm Türen öffnet und andere vielleicht auch schließt. Lassen wir uns finden?

Warum? Weil Gott genau zu den Verlorenen geht, zu den Sündern, zu den Bösen. Jesus sagt einmal: „Der Menschensohn ist gekommen, Verlorene zu suchen und zu retten“ (Lukas 19, 10 HfA). Je mehr ich denke, ich sei besser, als die anderen, desto weniger werde ich von Jesus „gefunden“ werden. 

Es gibt Christen, die beziehen diesen Vers auf die „verlorenen Seelen“, die Jesus nicht kennen. Aber sein Angebot gilt jeden Tag, jede Stunde, jeden Atemzug, den wir tun – es gilt dir uns mir, im Alltag, in schwierigen Situationen, wenn wir uns mal wieder verrannt haben, wenn wir vor Entscheidungen stehen, wenn wir traurig sind – aber auch, wenn uns zum Feiern zumute ist. Lassen wir uns finden?

Der Schlüssel ist zu wissen, dass wir genauso hilfsbedürftig sind wie jeder andere Mensch auch, eben weil wir nicht perfekt sind. Lässt du dich heute finden? Dann hör auf, auf die anderen zu schauen (auch, wenn du dich über das Auto auf dem Fahrradweg ärgerst) und schau stattdessen lieber in den Spiegel. Entdecke den Menschen, den du dort siehst in allen Facetten, den positiven, aber auch den negativen – und lass dich von Gott lieben, berühren, segnen. 

Sei gesegnet!

Weitere Gedanken und einen Song zum Tag gibt es hier: – zum selbst Lesen oder Weiterleiten https://juergens-gedanken.blogspot.com

Jürgen Ferrary für GottinBerlin.de