Angefeindet
Konstantin läuft mit gesenktem Kopf durch die Schule. Seine Eltern sind Russen, und seinem Akzent nach hört man es ihm auch deutlich an, denn die Familie lebt noch nicht lange in Berlin. Bisher hatte er in seiner Klasse guten Anschluss gefunden und war eigentlich recht beliebt. Aber jetzt schämt er sich – und er hat Angst.
Nein, er ist absolut nicht für den Krieg – er kann auch nichts dafür. Auch seine Eltern können nichts für den Überfall auf die Ukraine. Aber sie sind Russen und haben Sorge, dass der Hass, der eigentlich Putin und seinen Schergen gilt, auch auf sie überschwappt.
Und so hat scheinbar alle Lebensfreude den kleinen 11-jährigen Jungen verlassen. Er weiß: Kinder können richtig gemein sein, und eigentlich wartet er nur darauf, dass er im nächsten Moment irgendwie angefeindet und angegriffen wird.
Liebt eure Feinde, wie Jesus es tat
Im Unterricht lese ich der Klasse die Worte von Jesus vor, wie sie Lukas wiedergibt: „Euch aber, die ihr mir wirklich zuhört, sage ich: Liebt eure Feinde und tut denen Gutes, die euch hassen. Bittet Gott um seinen Segen für die Menschen, die euch Böses tun, und betet für alle, die euch beleidigen“ (Lukas 6, 27-28 HfA).
Die Klasse schweigt. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Irgendwann platzt es aus einem Kind heraus: „Putin kann man nicht lieben! Der ist ein Verbrecher! Der hat unschuldige Frauen und Kinder auf dem Gewissen. Nein, das geht gar nicht!“
Wieder schweigen, bis ein anderes Kind sagt: „Jesus hat es aber getan!“ „Was hat Jesus getan?“, will ein anderer wissen. „Jesus hat seine Feinde geliebt!“
Das hat er – und er hat für die, die ihn gequält und umgebracht haben, sogar gebetet: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lukas 23, 34 HfA). Schnell merken sogar Kinder, dass wir Menschen mit unserem Latein immer wieder am Ende sind. Feindesliebe, das können wir nicht leisten, da macht unser Herz nicht mit.
Hass ist wie ein Krebsgeschwür
Und dennoch fordert uns Jesus dazu auf, weil er weiß: Hass macht unser Herz kaputt. Hass ist wie ein Krebsgeschwür, das einen langsam zerfrisst, wie eine Seuche, die man kaum mehr aufhalten kann, hat man sie einmal losgelassen.
Und ein Detail, das man im Deutschen nicht gleich erkennen kann, treibt die Sache noch auf die Spitze. Das Griechische kennt mehrere Worte, die wir im Deutschen mit „Liebe“ übersetzen. An dieser Stelle der Rede verwendet Jesus das Wort „Agape“, das für die göttliche, die aufopfernde Liebe steht.
Jesus sagt also nicht nur: „Seid nett zu denen, die euch hassen“, sondern: „Liebt sie, wie eigentlich nur ich lieben kann. Opfert euch sogar für sie auf.“ Und ich gebe zu: Ich kann das nicht! Und ich könnte nie verlangen oder erwarten, dass jemand so auf Gewalt und Krieg, auf Hass und Unterdrückung reagiert.
Liebe wird Hass überwinden
Das übersteigt absolut das Maß dessen, was wir Menschen leisten können. Jesus hat es aber getan. Und was anfänglich eigentlich nur dazu dienen sollte, die Kinder ein Stück dafür zu sensibilisieren, dass es für Konstantin im Moment nicht leicht ist und sie eindringlich zu bitten, lieb zu ihm zu sein, lässt mich jetzt auf die Knie sinken, weil ich merke, dass ich Gottes Geist, Gottes Liebe, Gottes Erbarmen für mein Leben brauche:
Jesus, Hass wird immer Hass produzieren, Liebe wird Hass überwinden, deswegen bitte ich dich: Schenke, dass der Hass in mir verschwindet, bitte hilf, dass dieses Geschwür mein Herz nicht länger kaputt machen darf, sondern schenke mir deine Liebe. Du hast mich schon geliebt, als ich nichts von dir wissen wollte. Hilf mir, ebenso zu lieben. Fang bei Menschen an, die ich nicht leiden kann und geh dann weiter – auch, wenn ich mir heute nicht vorstellen kann, dass ich Tyrannen, wie Putin lieben kann. Bei dir ist alles möglich. Und du hast es getan, Jesus! AMEN
Sei gesegnet!
Weitere Gedanken und einen Song zum Tag gibt es hier: – zum selbst Lesen oder Weiterleiten – https://juergens-gedanken.blogspot.com
Jürgen Ferrary für GottinBerlin.de