Jesus-Freaks
Vor Jahren war ich mit meiner Frau in Hamburg. Wir besuchten dort auch eine Gruppe (für uns) ungewöhnlicher Christen, die Jesus-Freaks. Als wir damals im „Powerhouse“ ankamen, fiel es mir schwer, nicht die Nase zu rümpfen. Ein Besucher dort sah „schlimmer“ aus, als der nächste.
„Was wollen die hier in einem Gottesdienst?“, dachte ich mir im Stillen, „die sehen alle so aus, als wären es Prostituierte, Stricher oder Zuhälter!“ Der Gottesdienst begann. Es gab (ungewöhnliche) Musik, dann eine (ungewöhnliche) Predigt, schließlich (wahnsinnig ernsthaftes) Gebet, (eine bewegende) Kollekte und einen Segen.
Etiketten
Ich hatte dort Menschen erlebt, die den Gottesdienst so ernst genommen haben, wie ich es kaum in einer Gemeinde erlebt hatte. Hinterher sprach uns einer dieser „skurrilen Typen“ an und begrüßte uns freundlich. Er zeigte uns alles und setzte sich dann abends noch lange mit uns zusammen, um uns vieles zu erzählen und zu erklären.
Dieser Mann war ein wahres Zeugnis, ein großes Licht, ein absolutes Vorbild im Glauben – und das, obwohl er so aussah, als würde ich die Straßenseite wechseln, wenn der mir nachts entgegenkommen würde.
In eine bestimmte Schublade
Ich hatte diesen Menschen ein Etikett, ein Label aufgeklebt. Etiketten kleben wir auf Marmeladengläser und Flaschen, viele auf Stromkästen und Lichtmasten. Label beschreiben entweder den Inhalt oder aber geben eine Botschaft wieder.
Und solche Label klebe ich auch auf Menschen. Ich sehe sie und packe sie in eine Schublade. Sie bekommen ein bestimmtes Etikett. Dieser Charakterfehler ist nicht neu. Als Jesus mit seinen Freunden einmal an einem blinden Mann vorbeikommt, ist für die Jungs klar: Irgendjemand muss „Schuld“ daran, sein, dass der arme Mann blind war.
Unbarmherzig, gefühllos, blind
Deshalb fragen sie Jesus: „Rabbi, wer war ein Sünder, sodass er blind geboren wurde – dieser Mann oder seine Eltern?“ (Johannes 9, 2 BB). Ist es nicht krass, wie schnell wir mit unserem Urteil sind? Eigentlich verurteilen wir die Menschen ja sogar.
Kein Gedanken daran, dass der Blinde ein Bettler war, der Hilfe benötigte. Kein Gedanke daran, dass der Mann sein Leben lang in einer Höhle hausen musste. Kein Gedanken daran, dass dieser Mann mit anhören musste, wie die Jünger über ihn dachten.
Wie konnten diese Männer nur so gefühllos sein? So unbarmherzig? So blind? Die Antwort wird uns wohl nicht gefallen:
Es ist leichter,
über jemanden zu sprechen, als ihm zu helfen. Es ist leichter, über Sünde zu debattieren, als „so jemandem“ ein Freund zu sein. Es ist leichter, über Scheidung zu diskutieren, als den Geschiedenen zu helfen. Es ist leichter, über Abtreibung zu streiten, als ein Waisenhaus zu unterstützen. Es ist leichter, sich über das Sozialwesen zu beschweren, als Armen zu helfen.
Es ist so viel leichter, ein Etikett zu kleben, als zu lieben.
Vielleicht brauchen wir es manchmal, dass wir selbst ein Etikett aufgedrückt bekommen, bevor wir wach werden. Ich habe es schon mehrere Male erlebt, dass ich Menschen kennengelernt habe – zum Beispiel auf einer Party -, die sich nett mit mir unterhalten haben.
Aber in dem Moment, wo ich mich als Christ und Pastor „geoutet“ hatte, kippte die Stimmung plötzlich. Auf einer Party habe ich es sogar erlebt, dass mein Gegenüber sich umdrehte und mich ohne ein Wort plötzlich stehenließ, als er hörte, wer ich war.
Tu das nicht!
Ich hatte mein Etikett bekommen. Ich würde solchen Menschen gerne hinterherrufen: „Du hast mich gerade in eine Schublade gesteckt! Tu das nicht! Pack mich nicht zusammen mit den Leuten, die verantwortlich sind für deine schlechten Erfahrungen mit Kirche und Pastoren! Das ist nicht fair! Ich bin nicht einfach ein Pastor – ich bin Jürgen, der als Pastor arbeitet!“
Seien wir selbst vorsichtig mit Etiketten oder Labeln, die wir anderen aufkleben. Nicht nur, dass wir sie in eine Schublade stecken, wir schränken auch unser Leben ein, denn so mancher, den wir ablehnen, könnte unser Leben bereichern – so, wie damals der junge Mann in Hamburg.
Sei gesegnet!
„Denke immer, du wärst an den Nächsten, und der Nächste wäre an deiner Stelle, und du wirst nie unbillig urteilen“ (Franz von Sales).
Weitere Gedanken und einen Song zum Tag gibt es hier: – zum selbst Lesen oder Weiterleiten – https://juergens-gedanken.blogspot.com
Jürgen Ferrary für GottinBerlin.de