Lumpensammler

Er ist Lumpensammler. Sein Geschäft ist nicht appetitlich. Wer zwischen alten Lumpen wühlt, hat keine sauberen Hände. Dabei wählt er sorgfältig aus. Er nimmt nicht jeden Fetzen. Im Gegenteil. Er gehört zu denen, die sich genau überlegen, was man mit den verschiedenen Stücken machen kann. Er prüft nicht, wozu sie einmal gehört haben. Ihn interessiert ihr jetziger Zustand. Taugt das eine oder andere Teil noch, um es wieder verarbeiten zu können?

Sortieren und Zusammensetzen

Schließlich sortiert er, was er mitgebracht hat, und beginnt, alles zusammenzusetzen. Unermüdlich fügt er das eine zum anderen. Nichts kann ihn aufhalten. Schließlich ist das neue Kleid fertig. Für einen bestimmten Menschen hat er es gemacht. Der soll es tragen. Wie eine zweite Haut wird es an ihm erscheinen. Keiner wird merken, dass es zusammengesetzt ist. Jedes Stück Lumpen schreit geradezu: „Ich gehöre zu dieser Person“. Wer würde sich schon die Mühe machen, das zu überprüfen: Man sieht doch, wie perfekt das Kleid sitzt!

Lumpen-Kleid

Darauf setzt der Lumpensammler seinen Plan. Er weiß, schlechte Nachrichten – „Lumpen“ – finden immer ein großes Publikum. Das Kleid redet für sich. Der Träger ist bloßgestellt. Und genau das ist das Ziel des Unternehmens.

Wölfe im Schafspelz

Dabei ist der Lumpensammler ein „frommer“ Mann. Er kennt die Bibel und natürlich auch das Wort: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“. Und er ist empört über Leute, die so etwas tun. Doch er sieht es als seine Aufgabe an, vor denen zu warnen, die er für „Wölfe im Schafspelz“ hält. Ihnen muss man das Handwerk legen! Deshalb hat er die „Lumpen“ gesammelt: Hier ein Zitat, da ein Wort, dort eine Stellungnahme, die der Betreffende, dem er meint, auf die Schliche gekommen zu sein, gesagt haben soll – Lumpen für Lumpen, eine ansehnliche Sammlung, genug, um daraus ein Kleid zu basteln.

Eigenartiger Stoff

Natürlich ist der Zusammenhang, aus dem die Lappen gerissen sind, kaum noch zu ermitteln. Warum auch? Die Lumpenzitate reden ja deutlich ihre eigene Sprache und klagen an.

Deshalb hat der Träger des neuen Kleides auch keine Chance, es loszuwerden. Es nützt ihm nichts, wenn er unglücklich ist über das, was man ihm angehängt, ja geradezu böswillig auf den Leib geschneidert hat und nun an ihm klebt. Nur wenige schauen genauer hin und  machen sich Gedanken über den eigenartigen Stoff, aus dem es gemacht ist.

Verleumdung und böse Nachrede

Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht über das Kleid. Gierig zerreißen die Münder jeden einzelnen Lumpen. Ob der Betreffende damals nicht wirklich „das“ und „das“ gesagt hat? Ob es nicht doch stimmt, was man ihm unterstellt? Man sieht ja mit eigenen Augen, wie gut alles zueinander passt.

Der Lumpensammler ist zufrieden mit seinem Werk. „Verleumdung“ und „böse Nachrede“ sind Worte, die bei ihm nicht vorkommen. Er gehört zu denen, die für „Gerechtigkeit“ sorgen! Seine Wühl- und Stückelarbeit hat ihn einiges gekostet! Eigentlich müsste man ihn für seine Verdienste auszeichnen. – Oder nicht?

Dr. Irmhild Bärend für gottinberlin.de